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Anlässlich von Erntedank: Schöpfungserzählungen und Naturwissenschaften

Erntedank ist ein wichtiges Fest in unserer Kirche. An diesem Tag sagen wir Gott Dank für seine Schöpfung. Aber was meinen wir eigentlich, wenn wir Schöpfung sagen? Die Schöpfungserzählungen der Bibel erscheinen vielen Menschen heute suspekt. Oft werden sie belächelt. Wer daran wohl noch glaubt? Wir haben doch heute naturwissenschaftliche Erklärungen! 

Ja, die haben wir. Aber ich denke: Schöpfungserzählungen und naturwissenschaftliche Erklärungen antworten auf unterschiedliche Fragen. Den Naturwissenschaften geht es darum zu erklären, wie sich die Welt entwickelt hat. Den Schöpfungserzählungen geht es um den Grund allen Seins. Ich behaupte: Den Menschen, die die beiden Schöpfungsberichte in die Bibel aufnahmen, ging es nicht darum zu erklären, wie die Welt entstanden ist. Das folgere ich aus der Tatsache, dass es zwei biblische Schöpfungsberichte gibt, die so gar nicht zusammenpassen. Ist Ihnen das schon einmal aufgefallen? Gleich nach der Erzählung von der Erschaffung der Welt in sechs Tagen schließt sich die Paradiesgeschichte an, in der der Mensch noch einmal geschaffen wird, ebenso wie alles andere. Sie erzählt die Schöpfung der Welt ganz anders. Und trotzdem wurden beide Geschichten in die Bibel aufgenommen. Was haben sich die Sammler der biblischen Schriften dabei wohl gedacht? Ganz offenbar sahen sie in dem Nebeneinander der beiden Erzählungen kein Problem. Daraus schließe ich, dass es ihnen nicht darum ging zu erklären, wie Gott die Welt erschaffen hat. Ihnen ging es darum zu erzählen, dass es Gott war, der die Welt geschaffen hat. 

Wer glaubt noch an die Schöpfungserzählungen? Ich. Wenn damit gemeint ist: Ich glaube, dass unsere Erde kein Zufall ist. Wir Menschen sind nicht heimtückischen Mächten ausgeliefert, z.B. den Sternen, die unser Schicksal bestimmen, sondern sind von Gott begleitet. Er hat uns geschaffen. Für mich bedeutet an Gottes Schöpfung zu glauben, darauf zu vertrauen, dass mein Leben einen Sinn hat. Ich bin gewollt – wie jede andere Kreatur. Und gleichzeitig höre ich den Auftrag Gottes, seine Schöpfung, die er uns anvertraut hat, zu bewahren.

Pastorin Janina Boysen 

 

100 Jahre Weltkriegsende

Predigt von Pastor Johann Hinrich Claussen (Kulturbeauftragter des Rates der EKD) zum Tag des offenen Denkmals in der Christkirche 2018 

I.
Vor zwei Wochen war ich mit meiner Familie in Büdelsdorf, heute haben Sie mich eingeladen, um an einem besonderen Datum mit Ihnen über Ihre schöne Kirche nachzudenken. Vor einhundert Jahren endete der Erste Weltkrieg. Wir Deutsche müssen uns einen Ruck geben, um daran zu denken. Denn in unserer Erinnerung ist der Erste vom Zweiten Weltkrieg überlagert. In Frankreich oder Belgien aber bezeichnet man mit „la grande guerre“ den Ersten, weil er dort seine ganze Macht gezeigt hat: an der Somme, der Marne, in Verdun. Welche Spuren dieser Erste Krieg auch bei uns hinterlassen hat, kann an den Kriegerdenkmälern in unseren Städten, Dörfern, Kirchen ablesen. Deshalb nutzen wir diesen „Tag des offenen Denkmals“, um die Denkmäler in dieser Kirche wahrzunehmen zu bedenken. Nun bin ich heute zum ersten Mal in der Christkirche zu Rendsburg und schaue mich um. Unternehmen wir doch eine kurze Kirchenführung im Sitzen, schauen Sie sich mit mir um. Wir sehen eine alte, schöne Garnisonskirche mit vielen Gedenktafeln, manche fremd, andere näher, einige anrührend, andere verstörend, aber sie alle führen zu Fragen wie diesen:
- Wer weiß noch, gegen wen die Schleswig-Holsteiner zwischen 1818 und 1851 gekämpft haben?
- Wie hieß der König, für den die Söhne Rendsburgs 1870/71 starben?
- Wer kennt diese Namen: Hermann Bauer, Jürgen Clausen oder Johann Schröder? Oder deren Nachfahren?
- Weiß jemand, was das Lauenburgische Feldartillerie-Regiment Nr. 45 war, dessen Mitglieder ein Erinnerungszeichen für ihre im Ersten Weltkrieg gefallenen Kameraden angebracht haben?
- Was sollten Soldaten von hier eigentlich in China oder Afrika?
- Warum wurden die Toten aus dem Zweiten Weltkrieg nicht namentlich genannt? Waren es zu viele? Warum ist diese Tafel so schlicht?
- Was bedeuten all diese Tafeln? Stellvertretend für die anderen, zitiert eine den in diesem Zusammenhang am häufigsten gebrauchten und missbrauchten Bibelvers: „Niemand hat größere Liebe denn die, dass er sein Leben lässet für seine Freunde.“ Aber was soll das heißen? Der Tod eines Soldaten als Akt der Liebe – ähnlich dem ganz und gar unmilitärischen Tod Jesu?
- Und schließlich, wie gehen Sie als Gemeinde damit um?

II.
Ich habe Ihnen etwas mitgebracht. In meiner Familie bin ich der Archivar. Nach dem Tod unserer Eltern habe ich das, was es an historischen Dokumenten gab, genommen und in zwei Kiste gepackt. In regelmäßigen Abständen öffne ich sie und hole etwas heraus. Vor vier Wochen bekam ich diese Urkunde in die Hand. Ausgestellt hat sie die Kirchengemeinde, zu der die Familie meines Vaters gehörte. Anlass war der Tod seines großen Bruders. Dort steht: „Dem Gedächtnis unseres Mitbruders und Gemeindegliedes Heinrich Claussen der sein Leben gab für Führer, Volk und Vaterland – Februar 1943 – Die Kirchengemeinde Berlin-Dahlem“. Und dazu der Bibelvers: „Niemand hat größere Liebe denn die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde.“
Bevor man Gedenktafeln in den Kirchen aufhängte, händigte man der Familie also eine Gedenkurkunde aus (persönlich oder postalisch, in einem Gottesdienst?). Die Gemeinde nahm Anteil, mit den sprachlichen Mitteln dieser Zeit (es war übrigens kein „Heldentod“, sondern ein Arbeitsunfall ohne Feindeinwirkung gewesen). Sie zitierte den notorischen Vers aus dem Johannesevangelium. „Für Führer, Volk und Vaterland“ – dabei war Berlin-Dahlem eine Widerstandsgemeinde, die Gemeinde von Martin Niemöller. Deshalb zögere ich, diese Urkunde vorschnell zu verurteilen. Ich sehe in ihr weniger ein NS-Bekenntnis als den Versuch, die Verbundenheit zu einer trauernden Familie auszudrücken – in den damaligen Grenzen. Dazu gehörte wie selbstverständlich der soldatische Jargon, der uns abstößt, weil wir in einer postheroischen Kultur leben. Doch, dass wir innerlich so demilitarisiert sind, ist eine historische Ausnahme.
Warum habe ich diese Urkunde mitgebracht? Sie zeigt mir, dass das, was hier im öffentlichen Raum einer Kirche hängt, einen persönlichen Bezug hat. Die Denkmäler sind nicht zu denken ohne die Fotos der Gefallenen in den Wohnzimmern der Familien oder solche Urkunden in privaten Schubladen. Doch die Zeit vergeht. In den meisten Familien sind die Bilder der Gefallenen längst abgehängt. Ich weiß zwar, dass der Tod seines großen Bruders  das Leben meines Vaters geprägt hat. Aber ich selbst trauere nicht. Meine Kinder haben vielleicht noch eine Ahnung von ihrem Großonkel Heinrich. Aber ob sie einmal, nach meinem Tod, diese Urkunde aufheben werden? So schwindet das Gedenken in den Familien. Nur in der Kirche ist es immer noch da. Ist das richtig? Sind diese Tafeln Ausdruck eines echten Gefühls, trösten sie noch irgendjemanden? Wäre es nicht an der Zeit, die Wände frei zu machen für aktuellere, drängendere Anliegen? Aber der Denkmalschutz verpflichtet uns, diese Tafeln zu bewahren. So schnell werden wir sie nicht los, deshalb müssen wir sie verstehen und beurteilen lernen. Hoffentlich bleibt das keine historische Aufgabe, sondern inspiriert uns, Friedensstifter zu werden.

III.
Sie sind nicht allein. Der Umgang mit ihren Gedenktafeln beschäftigt viele Kirchengemeinden. Vor wenigen Jahrzehnten war dies mit heftigem Streit verbunden. Nach 1968 kämpften viele Pastoren und Kirchenvorstände darum, diese Tafeln und damit die Reste eines militaristisch-nationalistischen Ungeistes aus den Kirchen zu verbannen. Das rief massive Widerstände hervor. Diese Konflikte waren notwendig, aber ich bin froh, dass wir uns diesem Thema mit mehr Ruhe, Gelassenheit, Sensibilität und Aufmerksamkeit für andere Positionen widmen können. Nicht nur die Tafeln, auch die Proteste gegen sie waren Kinder ihrer Zeit. Das hat mich ein Buch gelehrt, das ich Ihnen ebenfalls mitgebracht habe: „Opfer. Die Wahrnehmung von Krieg und Gewalt in der Moderne“ der Berliner Historikerin Svenja Goltermann, erschienen im vergangenen Jahr.
Ich war gewohnt, Gedenktafeln wie die Ihren allein  als Machtzeichen von Nationalismus und Militarismus zu deuten. Doch Svenja Goltermann zeigt, dass man in ihnen auch frühe Versuche einer Humanisierung des Kriegs sehen kann. Wie das? Bis weit ins 19. Jahrhundert blieben die gefallenen Soldaten auf dem Schlachtfeld liegen. Ihr Tod wurde nicht registriert, ihre Familien wurden nicht benachrichtigt. Noch während der Napoleonischen Kriege wurde nur der Tod von Generälen öffentlich zur Kenntnis genommen. Das änderte sich, als man Anfang des 19. Jahrhunderts die Söldnertruppe ersetzte durch das patriotische Volksheer und die allgemeine Wehrpflicht einführte. In Preußen etwa geschah dies durch die Heeresreform unter Stein und Hardenberg. Nun sollte das Volk den Krieg führen – das bedeutete aber auch, dass das Volk beteiligt werden musste. Jetzt hatte die Obrigkeit auf einem wichtigen Bedürfnis der Angehörigen Rechnung zu tragen: zu erfahren, wer von den Vätern und Söhnen wie und wo gestorben war, sowie die Gewissheit zu haben, dass jeder ein Grab erhielt und an jeden namentlich erinnert wurde, zum Beispiel durch Gedenktafeln in Kirchen. So begannen die entstehenden Nationalstaaten mit ihren Bürokratien ihre gefallenen Soldaten zu zählen. Damit verband sich eine „Demokratisierung“ des Gedenkens: Auch der einfache Soldat wurde denkmalfähig. Vergleichen Sie einmal das prächtige Epitaph hinter dieser Kanzel für den Kommandeur Generalmajor Andreas Fuchs mit den Tafeln unten. Es gehört einer älteren Zeit an, in der man nur der Obersten gedachte. Jetzt aber war jeder Soldat gedenkwürdig. Doch zunächst wurde nur an die gedacht, die von einem Feind getötet wurden. Die Mehrheit der Soldaten aber starb an Hunger, Unfällen und Epidemien. Das waren keine Helden, sondern Opfer. Und für Opfer interessierte man sich nicht, ihnen machte man eher Vorwürfe. Erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts kam es zu einer Umkehrung: Der Heldenbegriff trat zurück und der Opferbegriff erfuhr eine Aufwertung und Pluralisierung. Jetzt sollten alle gestorbenen Soldaten berücksichtigt, aber auch der Opfer aus der Zivilbevölkerung gedacht werden – mancherorts sogar der Opfer auf Seiten der Feinde. Und nach und nach auch die verfolgten Minderheiten. Wir sind damit noch an keinem Ende angekommen.
Warum erzähle ich Ihnen dieses? Weil es zeigt, wie sehr das Gedenken und der Protest gegen früheres Gedenken zeitbedingt sind, dass beides – diese Gedenktafeln und unsere Kritik an ihnen – nicht nur Gegensätze sind, sondern auch einer gemeinsamen Linie folgen (allerdings sehr versetzt). Das sollte uns Demut lehren, aber auch Hoffnung. Es sollte uns dazu anhalten, sorgfältig im Urteilen zu sein. Es sollte uns dazu anstiften, die Geschichte des Gedenkens eigenständig fortzuschreiben. Sie ist ein offener Prozess.

IV.
Zum Schluss: Sich mit Ihren Gedenktafeln zu beschäftigen, ist keine bloß rückwärtsgewandte, historische Pflichtübung. Es ist eine Gelegenheit, sich als einzelner Christ und als Kirchengemeinde grundsätzliche Frage über Leben und Tod, gut und böse, Krieg und Frieden zu stellen. Was ist der Mensch? Wozu ist er fähig? Was muss er erdulden? Wie erinnern wir uns an wen? Wen sehen wir nicht und warum? Wie weit reicht unsere Anteilnahme und unser Mitleid und wo sind ihnen Grenzen gesetzt, die uns selbst oft gar nicht einmal bewusst sind? Das sind keine akademischen Fragen, sondern sie können in konkretes Handeln münden, zum Beispiel in einen anderen, bewussteren Umgang mit diesen Gedenktafeln. Wie Sie ihn gestalten werden – das ist ein offener Prozess. Fertige Antworten oder gar Vorschriften werde ich Ihnen dazu nicht machen.
Aber zum Schluss möchte ich noch einen biblischen Hinweis geben. „Niemand hat größere Liebe als die, der sein Leben gibt für seine Freunde.“ Dieser Satz, vom Jesus des Johannesevangeliums am Ende seines Lebens gesprochen, weist uns auf zweierlei hin: eine Versuchung und eine Leitperspektive. Zum einen, die Versuchung, dass wir unser menschlich-zeitbedingtes Erinnern und Vergessen mit einer theologischen Ideologie umkleiden, etwa indem wir den Tod von Soldaten mit dem Tod Christi kurzschließen. Zum anderen die Leitperspektive, dass der christliche Glaube mit dem leidvollen Tod eines unbewaffneten Unschuldigen beginnt. Das Kreuz Jesu Christi sollte deshalb unser Denken, Fühlen und Handeln ausrichten: Nicht auf Macht und Gewalt, sondern auf die Liebe Gottes. Die Liebe Gottes gilt allen Menschen, unseren Feinden und unseren Feinden. Und sie überwindet die Grenzen zwischen Tod und Leben. Amen.